Vier weitere Stolpersteine als mahnende Erinnerung
Größtes dezentrales Denkmal Europas
In Wolfenbüttel wurden am Montag, 4. März 2024, vier weitere Stolpersteine zu den bisherigen 121 verlegt, um die Erinnerung an Wolfenbütteler Bürgerinnen und Bürger, die Opfer nationalsozialistischer Repressionsmaßnahmen wurden, wach zu halten. „Es sind die Anfänge in unserer Gesellschaft, die wir jetzt wieder beobachten“, betont Bürgermeister Ivica Lukanic bei der Verlegung, die aktuell dieses Kunstprojekt wichtiger denn je mache.
Das Kunstprojekt „Stolpersteine“ gilt als größtes dezentrales Denkmal Europas. Fast 30 Jahre ist es her, dass Gunter Demnig die ersten, mit gravierten Messingplatten überzogenen, Pflastersteine im Gehweg verankert hat. Inzwischen ist sein Kunstprojekt zu einem monumentalen Werk von über 100.000 Steinen in 24 Ländern angewachsen. Jeder einzelne „Stolperstein“ erinnert an das Schicksal eines Menschen, der in der Zeit des Nationalsozialismus verfolgt, ermordet, deportiert, vertrieben oder in den Suizid getrieben wurde. So visualisiert der Künstler auf besondere Art das unfassbare Ausmaß der Vertreibung von Menschen, die einst mitten in den Städten und Gemeinden Europas lebten.
Erinnert wird dieses Mal vor der Lessingstraße 10 an die jüdischen Brüder Siegmar und Ludwig Hirsch, die als minderjährige Waisen nach Wolfenbüttel kamen. Siegmar flüchtete mit 17 Jahren nach Palästina, während sein Bruder Ludwig bei verschiedenen jüdischen Familien Unterkunft fand, 1937 zwangssterilisiert und 1942 letztlich deportiert wurde.
Ludwig Hirsch wurde am 30. August 1919 in Thorn geboren und zog 1933 nach Wolfenbüttel. Sein Vater war Jakob Hirsch, verstorben in Breslau, und seine Mutter war Selma Hirsch, geborene Jakobi, die in Thorn, Ludwigs Geburtsort, verstarb. Während seiner Zeit in Wolfenbüttel war Hermann Daniel der Vormund des noch nicht volljährigen Ludwig.
Die Nationalsozialisten hatten am 14. Juli 1933 das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ erlassen, um „die Reinhaltung des gesunden Volkskörpers“ sicherzustellen. Dieses Gesetz stellte die Grundlage für die Ausgrenzung, Verfolgung und spätere Ermordung von Menschen mit vermeintlichen Erbkrankheiten dar. Auf dieser Grundlage beantragte der für Wolfenbüttel zuständige Amtsarzt am 24. November 1936 die „Unfruchtbarkeitmachung“ Ludwigs, die in einer mündlichen Beratungssitzung des „Erbgesundheitsgerichts Braunschweig“, dem Amtsgerichtsrat, dem Medizinalrat (Dr. Muhlert) und einem Nervenarzt (Dr. Weiß) beschlossen wurde.
Der vermeintliche Anlass für diese Maßnahme war, dass Ludwig „zurückgeblieben“ sei und an „angeborenem Schwachsinn leide“. Aus diesen Gründen besuchte er wohl auch eine Förderklasse und erhielt Privatunterricht. Bei einer sogenannten „Intelligenzprüfung“ wurden eine angeblich schlechte Auffassungsgabe, ein langsamer Gedankenablauf, eine herabgesetzte Kombinationsgabe und mangelndes Urteilsvermögen festgestellt. Kinder Ludwigs hätten demzufolge angeblich körperliche und geistige „Erbschäden“ aufweisen können.
Aus einem Briefwechsel zwischen den Ärzten und Ludwigs Vormund Hermann Daniel geht hervor, dass Hermann Daniel zunächst nicht widersprach. Obwohl er am 3. Dezember 1936 forderte, das Gesetz vorgelegt zu bekommen, stimmte er den Maßnahmen vier Tage später zu. Später (am 14. Januar 1937) bat er jedoch um eine Fristverlängerung, da er die Hoffnung hatte, dass Ludwig viel aufholen könne, weil er sich gut entwickeln würde und er im Januar 1937 eine Lehrstelle im Neuen Weg 34 bekam. Der Brief zeigt eindrücklich und berührend, wie sehr der ebenfalls von den Nationalsozialisten verfolgte Hermann Daniel versucht hat, sein Mündel zu schützen.
Die Zwangssterilisation erfolgte jedoch am 27. März 1937. Am 1. April 1937 wurde Ludwig wieder entlassen. In den medizinischen Akten findet sich der zynische Vermerk, man habe Ludwig „geheilt“ entlassen. In einem Brief vom 6. April 1937 bittet Hermann Daniel darum, die Kosten für die Sterilisation nicht Ludwig Hirsch aufzubürden.
Am 25. März 1942 wurde Ludwig Hirsch unter anderem zur Zahlung einer Abgabe an die „Reichsvereinigung der Juden“ gezwungen. Sein gesamtes Vermögen wurde im selben Jahr „eingezogen“. Am 31. März 1942 wurde Ludwig Hirsch nach Polen deportiert, von diesem Tag stammt auch sein letztes Lebenszeichen in Form eines Briefes an Georg Hirsch. Das örtliche Finanzamt übernahm nach seiner Deportation am 31. März 1942 aus Ludwigs Besitz fünf Handtücher und vermerkte: „Für die Ausstattung des Finanzamtes Wolfenbüttel entnommen und ordnungsgemäß vereinnahmt.“ Laut einer Vermögenserklärung vom 20. März 1943 besaß er einen Bargeldbestand von 24 Reichsmark, Bettwäsche und Kleidungsstücke. Die amtliche Feststellung seines Todes wurde am 13. März 1947 unterzeichnet, als Todestag wird der 8. Mai 1945 festgesetzt, was jedoch höchstwahrscheinlich nicht dem tatsächlichen Todeszeitpunkt entspricht.
Ludwigs Brüder stellten 1947 als seine Erben Antrag auf Rückerstattung seines Vermögens, jedoch waren die Grundstücke 1938 verkauft worden und das bewegliche Vermögen an das Deutsche Reich gefallen.Der minderjährige Ludwig musste während seiner Zeit in Wolfenbüttel fast jährlich den Wohnsitz wechseln. Aus diesem Grund und weil an seiner letzten Meldeadresse in Wolfenbüttel kein Wohnhaus mehr steht, wird sein Stolperstein gemeinsam mit dem seines Bruders vor der heutigen Lessingstraße 10 (ehemals Lessingstraße 4) verlegt.
Siegmar Hirsch zog mit seiner Familie 1920 von Thorn nach Breslau und von dort dreizehn Jahre später im Alter von 15 Jahren nach Wolfenbüttel. Sein Vormund war sein älterer Bruder Georg, der selbst 1939 mit seiner Frau Betty über die Niederlande in die USA floh. In Wolfenbüttel wurde ihm von dem Kaufmann Daniel, dem Vormund seines Bruders Ludwig, ein Sparbuch bei der Braunschweigischen Staatsbank mit einem Guthaben in Höhe von 937 Reichsmark hinterlegt. Das Vermögen wurde allerdings 1940 von den Nationalsozialisten gesperrt.
1951, lange nach dem Ende des zweiten Weltkriegs und der Herrschaft der Nationalsozialisten, wurde es ihm auf seine Initiative hin zurückerstattet. Um der Judenverfolgung zu entkommen, floh Siegmar Hirsch 1935 nach Haifa und baute sich dort eine eigene Familie auf.
Auf eigenen Wunsch wurde Hirsch 1983 wiedereingebürgert. Trotz der Wiedereinbürgerung in Deutschland blieb Hirsch bei seiner Frau und seinen Kindern in Haifa, bis er dort 2004, im Alter von 86 Jahren, verstarb.
Vor der Bahnhofstraße 2 wurden anschließend zwei weitere Stolpersteine für das jüdische Ehepaar Isaac und Elsabeth Mannheimer verlegt, die hier viele Jahre mit ihren drei Töchtern lebten. Isaac verstarb 1934 in Wolfenbüttel, seine Frau Elsabeth wurde 1942 nach Riga deportiert.
Isaac Mannheimer wurde im Oktober 1872 in Ungedanken im Kreis Fritzlar geboren. Als er die aus Duderstadt stammende Elsabeth Cohn im Jahr 1898 heiratete, lebte er bereits in Wolfenbüttel. Isaac arbeitete als Viehhändler. Gemeinsam zogen die beiden in den Großen Zimmerhof 14. Sie bekamen drei Töchter: Martha, Franziska und Gertrud. Leider starb Gertrud zwei Monate nach der Geburt. Die Familie zog in die Bahnhofstraße 2 um, wo Elsabeth am 13. November 1912 ihr viertes und letztes Kind, Käte, bekam.
Am 2. Januar 1934 verstarb Isaac Mannheimer. Er war gerade 61 Jahre alt. Aus der Sterbeurkunde geht hervor, dass es seine älteste Tochter Martha war, die diese beim Standesamt unterzeichnete. Martha war zu dieser Zeit bereits verheiratet, hatte den Namen Mayer angenommen und lebte in Berlin. Zu Lebzeiten hatte Isaac noch das Glück, seine erste Enkelin, Ruth Mayer, kennenlernen. Ruth kam 1927 zur Welt. Isaac Mannheimer war einer der letzten Juden, die bis 1945 auf dem jüdischen Friedhof in Wolfenbüttel beigesetzt wurden. Sein Grabstein hat die Verwüstungen und Zerstörungen der NS-Zeit überlebt.
Vermutlich hatte Familie Mannheimer ein gutes Verhältnis zueinander. Die zweite Tochter Franziska, die als Leiterin eines Erholungsheims an der Nordsee und verschiedenen jüdischen Heimen tätig war, war nochmal einige Wochen bei ihrer Mutter in Wolfenbüttel gemeldet, bevor sie mit ihrem Mann Abraham Hoffmann nach Palästina floh. Martha mit ihrer Familie und die jüngste Tochter Käte flüchteten in die USA. Käte berichtet in einem Zeitungsinterview aus den 1980er Jahren, wie gerne und häufig sie in der Bahnhofstraße zu Besuch war.
Elsabeth Mannheimer, geborene Cohn, wurde am 4. März 1877 in Duderstadt geboren. Ihre Eltern Jacob Cohn und Rosalie Cohn, geborene Blumenthal waren Viehhändler. Am 19. Oktober 1898 heiratete Elsabeth Isaac Mannheimer. Sie zogen in Wolfenbüttel in den Großen Zimmerhof 14, dort lebten sie bis zum 2. Juli 1912. In dieser Zeit bekamen sie drei Töchter: Martha, Franziska und Gertrud. Gertrud starb zwei Monate nach der Geburt. Nach dem Umzug in die Bahnhofstraße 2, bekamen sie am 13. November 1912 ihr viertes und letztes Kind, Käte.
Im Januar 1934 verstarb Isaac Mannheimer. Die drei Töchter hatten Wolfenbüttel inzwischen verlassen, Franziska war nach Palästina geflüchtet. Im Dezember 1935 füllte auch Elsabeth den Fragebogen zur Auswanderung nach Palästina aus. Dort wollte sie eine Hühnerfarm errichten. Dieser, sowie der Auswanderungsversuch nach Nordamerika zu ihrer Tochter Käte wurden abgelehnt. Warum, ist allerdings unklar. Elsabeth wollte Bargeld in der Höhe von 1.000 Reichsmark und 2.500 Reichsmark über ein Sonderkonto mitnehmen. Noch im Mai 1941 erhielt sie eine steuerliche Unbedenklichkeitsbescheinigung zum Zweck der Auswanderung. Ihr letztes Jahreseinkommen bezifferte sie auf 5.500 Reichsmark und nannte die Höhe ihres Guthabens bei der Deutschen Bank Wolfenbüttel 1.618 Reichsmark, welches sie zu einer wohlhabenden Frau machte.
Zwischen 1935 und 1937 zog Elsabeth in die Lange Herzogstraße 46. Wegen der „Judenkennzeichnung“ musste Elsabeth ab 1938 den Zweitnamen Sara tragen, dieser wurde erst am 26. August 1948, also nach ihrem Tod, wieder offiziell zurückgenommen. Vermutlich aus gesundheitlichen Gründen verließ Elsabeth Wolfenbüttel am 29. Juli 1941, um im Alter von 64 Jahren in das Jüdische Altersheim in die Ellernstraße in Hannover zu ziehen. Von dort aus wurde sie am 15. Dezember 1941 nach Riga deportiert. Da ihr Todesdatum unbekannt ist, wurde von offizieller Seite der 31.12.1945 in den Akten vermerkt.
Bei der Suche nach Nachfahren tauchte ein archiviertes Zeitungsinterview auf, in dem die in New York lebende jüngste Tochter Käte berichtet, dass ihre Mutter Elsabeth gern in der Bahnhofstraße wohnen geblieben wäre. Dies sei aber damals nicht möglich gewesen. Daher wurden die Steine für Isaac und Elsabeth Mannheimer vor ihrem letzten gemeinsamen Familienwohnort in der Bahnhofstraße 2 verlegt.
Recherchiert wurden die Familiengeschichten von einer 10. Klasse des Gymnasiums im Schloss, sowie von sechs Schülerinnen des Wahlpflichtkurs Erinnerungskultur der IGS Wallstraße.
Quelle: PM 04.03.2024