Kerstin Kuechler-Kakoschke, Agentur für Arbeit Braunschweig-Goslar
Ich bin der Typ Zukunft
Die Tür ist zu. Auf einem Schild sind die Öffnungszeiten zu lesen, donnerstags bis 12 Uhr. Nun ist es aber nachmittags und dass man in die Agentur für Arbeit außerhalb der Bürozeiten einfach so hineinflanieren kann, sollte man nicht erwarten.
Ich beginne nach so etwas wie einer Türklingel zu fahnden, doch noch bevor ich meine Suche vor Gebäude Block D mit mäßigem Fahndungserfolg abbrechen muss, öffnet ein Mann die Tür. „Zur Chefin vons Janze“ will ich schon sagen, verkneife mir das unpassende Rumberlinern aber lieber und sage, dass ich mit Kerstin Kuechler-Kakoschke verabredet bin. „Ah“, sagt der Mann wissend, als kenne er deren Terminkalender wie seine Westentasche, gewährt mir freundlich Einlass und weist mir den Weg. Die Chefin wird mir später erzählen, dass diese Portierstelle ein unbedingt sinnvoller Wegweiser ist. Und der Mann „einfach `ne Wucht“ sei. Lag ich ja mit meinem anberlinerten Einstieg gar nicht so daneben.
Chefbüro ohne Vorzimmerbarriere
Wie beinahe alle anderen Türen auch steht auch die von Kerstin Kuechler-Kakoschke offen. Das hält sie fast immer so, das signalisiert, dass man sich hier nicht umständlich anmelden muss, wenn mal der Schuh drückt, etwas rasch geklärt werden muss. Seit Januar ist die 57-Jährige Chefin für den Bezirk Braunschweig-Goslar, trägt Personalverantwortung für 1000 Beschäftigte an sechs Standorten.
Wer keine offene Tür scheut, der schätzt bestimmt auch offene Fragen. Steigen wir also gleich zu Beginn des Gesprächs mal mit einem Reizthema ein, das gerade in dieser Region gelegentlich für hochfahrende Debatten gespickt mit Untergangsfantasien sorgt: Stellt VW die Produktion zunehmend auf E-Mobilität um, kostet das Tausende Arbeitsplätze. Im Werk und bei den Zulieferern. Wird das ein Turbo für die Arbeitslosigkeit in dieser Region sein? Könnte das einen Abwärtstrend auch für ganz andere Branchen nach sich ziehen? Getreu dem alten Sprichwort: Niest VW hat die ganze Region Schnupfen.
„Auf gar keinen Fall!“, sagt Kuechler-Kakoschke ohne zu zögern. Mit der Transformation vom Verbrenner hin zu E- oder Wasserstoffmobilität und den damit einhergehenden Folgen für den Arbeitsmarkt beschäftigt sie sich schon lange. Gewiss, Elektromobilität verändert Arbeitsplätze. Aber für freie Stellen sei es ja heute schon schwierig Arbeitskräfte zu finden. Insofern sei es für den regionalen Arbeitsmarkt eher Segen den Fluch, dass die Produktion von E-Fahrzeugen weniger personalintensiv ist.
Ob groß oder klein – alle Betriebe suchen Arbeitskräfte
Auch mit Blick auf ihr gesamtes Verantwortungsgebiet spricht Kuechler-Kakoschke dezidiert von Arbeitskräfte- und nicht nur von Fachkräftemangel. „Egal in welches Unternehmen ich komme, klein oder groß, Mittelstand oder Konzern, allen fehlen Arbeitskräfte.“ Hörte man vor Jahrzehnten noch oft die Klagen der Arbeitgeber über maue Leistungen von Schulabsolventen, die nicht mal den Dreisatz oder die Prozentrechnung beherrschten, die keinen grammatikalisch korrekten Satz auf die Tastatur bekämen, seien diese schulisch erworbenen Qualifikationen heute gar nicht mehr so entscheidend. „Hauptsache motiviert! Den Rest machen wir dann schon.“ Sätze, die sie immer wieder hört von Unternehmern auf der Suche nach Mitarbeitern.
Rein demografisch betrachtet sei für den Arbeitsmarkt einfach nicht genug Nachschub da. „In den nächsten Jahren gehen die Babyboomer in den Ruhestand. Das sind in der Regel in jeder Firma etwa 30 Prozent“, sagt Kuechler-Kakoschke. So ist es eher dieser Wandel, der ihr Sorgen bereitet. Obwohl: Sorgen ist ein Wort, zu dem Schluss darf man nach anderthalb intensiven Gesprächsstunden mit der zugewandten, an jeder Frage ernsthaft interessierten und diese redlich durchdenkenden Frau kommen, das in ihrer Gedankenwelt eher in der selten frequentierten Abstellkammer zu Hause ist. Wie auf den demografischen und digitalen Wandel zu reagieren ist, wie man bei dem hohen Tempo der Veränderungen in der Arbeitswelt Schritt hält und nicht aus der Puste gerät, dass sind Themen, die die Dauerläuferin begeistern. „Da will ich mitmachen, mitgestalten.“ „Früher war alles besser“ – das ist so gar nicht ihr Leitmotiv. „Ich bin voll und gern der Typ Zukunft!“
Ohne Automatisierung läuft nichts mehr in der Produktion
So ist sie auch ein absoluter Fan von Automatisierungen in der Arbeitswelt. Ach was Fan! Das impliziert ja, dass man auch Fan vom Gegenteil sein könnte. Aber das könnten wir uns, so Kuechler-Kakoschke, gar nicht erlauben, denn: „Automatisierungen von bestimmten Arbeitsabläufen sind zwingend, weil wir manche Produkte sonst mangels Arbeitskräften gar nicht mehr herstellen können.“
Ganz wichtig sei ihr bei diesen Automatisierungen, dass man „die Mitarbeiter gut mitnimmt, alle Einschnitte genau erklärt, damit sich Ängste erst gar nicht aufbauen.“ Was für die Produktion gelte, sieht sie auch im Dienstleistungssektor als positiv. Wenn Roboter im Restaurant das Essen an den Tisch bringen und kassieren oder den Check-in im Hotel regeln, sieht sie darin eine Chance für das Hotel- und Gaststättengewerbe, das noch heute unter den Nachwirkungen der Pandemie zu leiden hat. „Die mussten unheimlich kreativ sein“, zollt sie dieser Branche höchsten Respekt.
Kuechler-Kakoschke scheint mir vom Zugriff und vom Blick auf das Leben eher der Typ aus der Mannschaft „Das Glas ist noch halbvoll“ zu sein. Positiv, optimistisch. Klar, manche Gaststätte ging während der Pandemie in die Knie, bei mancher Kneipe versiegte der Zapfhahn für immer. Aber manche haben umstrukturiert, wovon gelegentlich auch die Mitarbeiter, die in dieser Branche auch nicht immer auf Händen getragen worden sind, profitieren. „Einige Wirte haben jetzt zwei, gar drei Ruhetage. Von diesen längeren Ruhezeiten profitieren auch die Mitarbeiter.“
Zeit für ein erstes Resümee. An Arbeit ist also kein Mangel. Eher im Gegenteil. Und dennoch gibt es ja noch die monatlich veröffentlichte Arbeitslosenquote. Eine Zahl, viele Biografien. Schicksale. Nicht immer die himmelhochjauchzenden. „Bei uns geht es nicht nur um Qualifikation.“ Zu ihren Kunden in den Jobcentern gehören auch Langzeitarbeitslose, Menschen, die durch Krankheit an Körper, Geiste oder Seele, Drogen oder welchen Nackenschlägen auch immer nicht arbeiten können. „Da sind wir da, helfen, beraten.“
Fachkenntnis und Assistenz – ein neues Modell
Und was ist mit den sogenannten Geringqualifizierten, die früher, als Arbeitsabläufe noch nicht überall so komplex waren, dennoch ihr Auskommen fanden? Heute suchen alle Fachkräfte, aber doch niemanden, der eine Lagerhalle ausfegt und Schrauben sortiert.
Ein Thema bei dem ihre Augen leuchten, bei dem es einen neuen Trend gibt: dem Fachkräftemangel wird begegnet, indem die Aufgaben aufgeteilt werden in Fachkenntnis und Assistenz. Nehmen wir den Pflegebereich. Das Klinikum Braunschweig gehört mit seinen 5000 Beschäftigten zu den großen Arbeitgebern dieser Region. „Es gibt viele Menschen, denen beispielsweise eine Arbeit als Pflegeassistenz reicht. Und das ist auch okay so oder dient als Einstieg in die Fachkraftausbildung.“ Auch im Handwerk, Bereich Sanitär, Heizung, Klimatechnik, werden derzeit in einer Maßnahme in Kooperation mit einem Bildungsträger in Goslar Helfer qualifiziert. „Die Unternehmen sind da sehr offen.“
Waren es früher die mangelhaften Mathekenntnisse, die die Unternehmer ihren Bewerbern oftmals kopfschüttelnd attestierten, ist es heute die Leistungsbereitschaft, die bei der Jugend angeblich unterirdisch ist. Kann Kuechler-Kakoschke überhaupt nicht unterschreiben. „Die sind motiviert und leistungsbereit.“ Unterschied zu früher sei womöglich, dass sie nicht mehr devot alles abnicken. „Sie kennen ihre Marktwert.“ Junge Menschen, so hat sie es erlebt, setzen heute manchmal andere Prioritäten, schlagen auch mal eine an sie herangetragene Führungsoption aus, weil die Rahmenbedingungen nicht stimmen oder sie gerade in der Familiengründungsphase sind. Dass man in dem Unternehmen Geld verdienen kann, reiche den jungen Erwerbstätigen heute schlicht nicht aus. Sie wollen wissen, welchen gesellschaftlichen Beitrag ein Konzern leistet, eine Sinnstiftung in ihrer Arbeit erkennen.
Dieses neue Selbstbewusstsein sei freilich auch der Tatsache geschuldet, dass „wir mittlerweile einen Arbeitnehmermarkt haben. Also: Der Arbeitgeber muss sich ins Zeug legen, um bei dem potentiellen Arbeitnehmer zu punkten.“
Hat sie selbst schon erlebt. Kuechler-Kakoschke lacht: „Da war ein Gespräch vorbei, ich stellte die Frage, ob der Bewerber selbst noch etwas hätte und dachte, das war`s jetzt. Und dann kam eine Fragenliste. Wie ist ihr Führungsstil? Was ist ihr Beitrag zum Team?“ Kuechler-Kakoschke ließ sich nicht lumpen und legte los: „Ich mag Menschen, rede gern mit ihnen, verstehe mich aufs Zuhören.“ Dass sie Menschen mag, beglaubigt sich vielleicht an der schönen Geste, dass sie die Geburtstage von engen Mitarbeitern nicht nur im Kalendern hat. Sir gratuliert auch persönlich.
Nun sitzen wir schon eine ganze Zeit in ihrem Büro an diesem Konferenztisch zusammen, dem jedes Imponiergehabe abgeht, der nie etwas anderes sein wollte als funktional, und ich bin mir sicher, dass sie mir mein Geständnis nicht krumm nehmen wird, dass ich nämlich die Agentur für Arbeit immer als Anlaufstelle für die gesehen habe, die eben diese gerade verloren haben. Sie lacht ein bisschen amüsiert, aber wohlwollend herzlich: „Ich sage immer von der Wiege bis zur Bahre sind wir für jeden da. Stimmt vielleicht nicht ganz. Aber wir sind eben auch für Beschäftigte da.“ Oder für solche, die es werden wollen: Schüler, die nicht wissen welchen der rund 350 Ausbildungsberufe oder 20 000 Studiengänge sie wählen sollen.
Wenn die Luft im Job raus ist und einem der Sinn nach Veränderung steht, kann man sich in einem Coaching Wege aufzeigen lassen, die vielleicht in einer Fortbildung oder Weiterqualifizierung münden. Oder ganz was Neuem. Zudem gibt es die Beschäftigtenförderung. Ein Beispiel: Eine Küchenhilfe, geringqualifiziert oder vormals Friseurin, arbeitet im Pflegeheim und will sich weiterqualifizieren. Die Kosten dafür erstattet die Agentur für Arbeit dem Arbeitgeber und übernimmt für die Zeit der Fortbildung auch die Kosten für eine Ersatzkraft.
Alles geht online, also keine Angst vorm Nummernziehen
Leider, so Kuechler-Kakoschke, ist der Gang zur Arbeitsagentur immer noch schambehaftet, sind Begriffe wie Stütze noch nicht aus allen Köpfen raus. Aber das wird. Zumal Hemmschwellen auch insofern gänzlich gefallen sind, als da man sich heute online arbeitslos melden kann. Nummer ziehen, Schlange stehen, Warten auf langen Gängen - das ist also vorbei. Es gibt sogar ein Antragstracking – da kann man ähnlich wie bei einem Paket verfolgen, wie weit die Bearbeitung gediehen ist.
Ich schrieb ja eingangs, dass man in so eine Agentur außerhalb der Besuchszeiten nicht einfach reinmarschieren darf. Weil bei manchen Kunden manchmal die Nerven blank liegen, weil es dann auch mal zu heiklen Situationen kommen kann.
Wie erstrebenswert ist so eine Arbeit eigentlich? Mit all den Menschen, die sich hinter der Arbeitslosenquote verbergen. Wo wir wieder beim purpose wären, dem Mehrwert der Arbeit jenseits der Lohnauszahlung. Der sei bei allen Mitarbeitenden, so Kuechler-Kakoschke, sehr hoch. Im Bereich der Rehabilitanten, wo Menschen manchmal über Jahre begleitet werden, um wieder in den Arbeitsprozess integriert werden zu können oder neues zu finden, sei die Zufriedenheit besonders hoch. Man begleitet jemanden eine Strecke seines Lebens, gelingt die Wiedereingliederung schließlich, „ist das unglaublich beglückend“.
„Ich habe unglaublich viel Spaß“
Und sie selbst? Wie kam es, dass die junge Frau nach dem BWL-Studium als Trainee im Arbeitsamt Braunschweig begann? „Ich wollte mir die Kosten für meine Bewerbungsunterlagen erstatten lassen. So kam ich ins Gespräch, na und am Ende fragte mich der Mitarbeiter, ob ich mich nicht als Trainee bewerben möchte.“ Beworben. Geklappt. Und niemals bereut. „Ich bin glücklich über diese immensen Gestaltungsmöglichkeiten“, sagt sie. Auch wenn sie natürlich trotz aller „Ideenblitze“ auch Budgetvorgaben hat, an gesetzliche Grundlagen gebunden ist. Sie wollte immer Leiterin einer Agentur werden, in Braunschweig sieht sie sich nach ihrer letzten Station in der Agentur für Arbeit Lüneburg-Uelzen angekommen. „Ich habe unglaublich viel Spaß“. Sagt`s und man glaubt es der Mutter von erwachsenen Zwillingen sofort.
So wie sie einst quasi in die Agentur gelotst wurde, rät sie auch ihren Mitarbeitern: „Sucht euch eure neuen Kollegen selbst aus. Wenn sie auf der anderen Seite des Tisches sitzen.“
Ein Beitrag von Susanne Jasper